Der erste Anlauf ab Mitte der 1990er-Jahre
Die Anfänge des heutigen Gedenkorts reichen bis in die Mitte der 1990er-Jahre zurück. Nachdem in den 1980er-Jahren begonnen worden war, verstärkt die Lokalgeschichte während des Nationalsozialismus aufzuarbeiten, kamen auch erste Vorschläge für ein Mahnmal auf der Putlitzbrücke auf den Tisch.(1) Die unzutreffende, aber von vielen als richtig angenommene Ansicht der DDR-Führung, dass das Reichsbahngelände Territorium der DDR wäre, führte dazu, dass niemand einen Gedenkort an der Originalstelle der Deportationen für möglich hielt. Zu dieser Zeit waren der „Bahnsteig für militärische Zwecke“ und die „Militärrampe“ noch vorhanden, nur die Gleise 81 und 82 fehlten.(2)
Bebauungspläne für das Areal
Nach 1989 und der Wiedervereinigung Deutschlands änderten sich die Verhältnisse grundlegend: Das Berliner Reichseisenbahnvermögen („Vorratsvermögen“) wurde an die neu gegründete Deutsche Bahn AG übertragen und sollte verkauft werden, soweit es nicht für Bahnbetriebszwecke benötigt würde.
Gleichzeitig gab es im Bezirksamt Bemühungen, durch die Aufstellung von Bebauungsplänen die Grundvoraussetzung für einen Gedenkort an authentischer Stelle zu schaffen. Die dafür benötigten Flächen sollten aus dem Bestand der Deutschen Bahn AG ausgegliedert und in Landesbesitz überführt werden. 1996 begann die vertiefte Forschung zu dem Ort, mehrere Gutachten wurden erstellt(3) und 1998 auf einer Erörterungsveranstaltung zur Aufstellung der Bebauungspläne und zum geplanten Gedenkort öffentlich vorgestellt.
Runder Tisch und wissenschaftliches Gutachten
Infolge der extremen Haushaltsnotlage Berlins nach dem Berliner Bankenskandal 2001 kam das Vorhaben danach erst einmal zu einem Ende. Am 30. Januar 2006 wurde schließlich ein Runder Tisch unter Leitung der Stiftung Topografie des Terrors einberufen, um unter anderem einen künstlerischen Wettbewerb zur Gestaltung des Gedenkortes auf den Weg zu bringen. Das vom Runden Tisch angeregte wissenschaftliche Gutachten(4) stellte fest, dass der Güterbahnhof Moabit der wichtigste Deportationsbahnhof Berlins war. Damit stand die vergleichsweise geringe anvisierte Gedenkfläche im Widerspruch zur viel größeren Dimension der Verbrechen, die hier stattfanden. Als Ergebnis der Arbeit des Runden Tischs wurde 2007 eine temporäre Informationstafel an der Quitzowstraße errichtet mit dem Hinweis, dass hier ein Gedenkort entstehen wird. Aufgrund der Finanzsituation des Landes Berlin kam das Vorhaben zunächst zum Erliegen.
Das Verfahren wird wieder aufgenommen
Die Bezirksverordnetenversammlung Mitte ersuchte ab 2010 das Bezirksamt Mitte, sich in Abstimmung mit dem Land Berlin für die Einrichtung eines Gedenkorts einzusetzen.(5) Die Arbeit des Bezirksamts konzentrierte sich dabei auf die Schaffung der Rechtssicherheit und auf die Übertragung erforderlicher Flächen für einen Gedenkort in das Fachvermögen des Bezirks.
In Abstimmung mit der für Kultur zuständigen Senatsverwaltung und der Stiftung Topografie des Terrors sowie dem Amt für Weiterbildung und Kultur / Bezirksamt Mitte wurde 2013 entschieden, die Gestaltung des Gedenkortes durch einen vom Land Berlin finanzierten Wettbewerb festzulegen. 2016 sicherte die Stiftung Deutsche Klassenlotterie 150 000 Euro zur Umsetzung des Wettbewerbsergebnisses zu.
Der künstlerische Wettbewerb und die Umsetzung
Das Land Berlin lobte richtliniengemäß einen einphasigen, nicht offenen und anonymen Kunstwettbewerb aus. Zur Teilnahme an dem Kunstwettbewerb wurden die Künstler*innen Oscar Ardila, Katharina Heilein, Katharina Hohmann, Viktor Kégli, raumlabor berlin, Daniel Seiple, Albert Weis, Georg Winter, Andrea Zaumseil eingeladen. Ziel des Kunstwettbewerbs war es, den bis dahin stadträumlich vergessenen Ort in die Landkarte der Berliner Gedenkkultur zu integrieren und damit die notwendige Erinnerung in das kollektive Gedächtnis der nachfolgenden Generationen einzuschreiben.
Bei der Preisgerichtssitzung am 18.08.2016 wurde der Entwurf „Hain“ des Kollektivs raumlaborberlin zur Realisierung empfohlen. „Als tragende Idee des Entwurfes wird der Gedenkort durch einen Hain aus Kiefern definiert. Ein scheinbar deplatziertes und irritierendes Landschaftselement ist aus Sicht der Verfasser*innen die angemessene Annäherung an diesen lange vernachlässigten Unort. Die Intervention schafft einen eindeutigen Ort, der sich dem räumlichen Kontext entzieht. Durch das Wachsen der Vegetation wird die vierte Dimension, die Zeit, als Teil des historischen Ortes erlebbar. Das wesentliche Relikt der Gleisfragmente aus verschiedenen Zeitabschnitten wird ergänzt und bildet den Kern dieses transitorischen Ortes, der die Schwelle zwischen Berlin und den Todeslagern war. Die besondere Qualität und Angemessenheit des Entwurfes ergibt sich aus der Kohärenz einer Idee, ihrer Lesbarkeit und einer abstrakten Neuinterpretation des authentischen Ortes, Gleis 69 Moabit.“(6)
Dem Preisgericht gehörten an: Prof. Dr. Stefanie Endlich (Kunstpublizistin / Vorsitz des Preisgerichts), Josefine Günschel (Bildende Künstlerin), Christian Hasucha (Bildender Künstler), Prof. Wolfgang Lorch (Wandel Lorch Architekten), Prof. Dr. Andreas Nachama (Direktor der Stiftung Topographie des Terrors), Dr. Christine Regus (Referatsleiterin Archive, Bibliotheken, Gedenkstätten, Museen und Einrichtungen bildender Kunst Senatskanzlei Berlin – Kulturelle Angelegenheiten), Sabine Weißler (Bezirksstadträtin im Bezirksamt Mitte von Berlin).
Am 16.06.2017 wurde der Gedenkort Güterbahnhof Moabit feierlich der Öffentlichkeit übergeben. Seit der Errichtung des Gedenkorts teilt sich das Bezirksamt Mitte die Pflege und Unterhaltung mit der Senatsverwaltung für Kultur und integriert ihn in die Erinnerungskultur des Bezirks.
Am 05.09.2021 wurde der Gedenkort mit der Installation eines ebenfalls von raumlaborberlin entwickelten Lichtzeichens ergänzt. Das Lichtzeichen markiert die Jahrestage der Deportationen vom Güterbahnhof Moabit, Anhalter Bahnhof und Bahnhof Grunewald. Die Finanzierung erfolgte aus Mitteln der Senatsverwaltung für Kultur und Europa (heute Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt) und der Senatsverwaltung Wirtschaft, Energie und Betriebe.
Die Errichtung dieses Gedenkorts wie auch die entsprechende politische Bildungsarbeit sind ohne das große bürgerschaftliche Engagement von Einzelpersonen sowie Initiativen nicht denkbar. Der 2011 gegründete Verein „Sie waren Nachbarn“ markierte beispielsweise mit dem Schriftzug „Von hier fuhren die Züge ins Gas“ den zukünftigen Gedenkort und stellte damit eine öffentliche Aufmerksamkeit für die Geschichte des Geländes her. Um den Erhalt des noch vorhandenen Gleises 69 setzt sich insbesondere der 2018 gegründete Verein „Gleis 69“ ein. Und seit 2015 befasst sich die AG Erinnern der gegenüber des Gedenkorts liegenden Theodor-Heuss-Gemeinschaftsschule mit der Geschichte des Gedenkorts.(7)
Der Wettbewerb „Letzte Wege sichtbar machen“
2020 jährte sich zum 75. Mal das Ende des Zweiten Weltkriegs, in dessen Schatten sich die Vernichtung der Juden und Jüdinnen vollzog. Vor diesem Hintergrund wollte das Bezirksamt Mitte von Berlin einen weiteren Beitrag zur Weiterentwicklung der Gedenkkultur im Land Berlin leisten. Das Projekt „Letzte Wege“ sollte neue Aufmerksamkeit für die Parallelität komplett gegensätzlicher Lebensrealitäten auf engstem Raum schaffen: einerseits der normale Alltag der einen Stadtbewohner*innen und andererseits der existentielle Ausnahmezustand der anderen.
Zur Teilnahme an dem einphasigen, nicht offenen und anonymen Ideenwettbewerb wurden eingeladen die Künstler*innen: Empfangshalle (Corbinian Böhm und Michael Gruber), Rolf Giegold, Renate Herter, Kunstprojekt REMEMBER (Sharon Paz, Jürgen Salzmann und Karl-Heinz Stenz), Pia Lanzinger und Michael Hauffen, realities:united (Jan Edler und Tim Edler), Daniel Seiple, Stih & Schnock (Prof. Renata Stih und Prof. Dr. Frieder Schnock), Rahel Zaugg. Die Künstler*innen wurden im Rahmen eines vorgeschalteten berlinweit offenen und nicht anonymen Bewerbungsverfahrens ermittelt.
Die Auswahl erfolgte durch den Auslober auf Empfehlung eines Beratungsgremiums, dem folgende Kunstsachverständige angehörten: Martin Kaltwasser, Shlomit Iehavi, Simone Zaugg sowie Dr. Ute Müller-Tischler. Das Preisgericht diskutierte umfänglich alle eingereichten künstlerischen Entwürfe und entschied, das Preisgeld von 6000,00 € zu gleichen Teilen (2000,00 €) an drei Entwürfe zu vergeben: „wirsinddasmahnmal“ von Rahel Zaugg, „Letzte Wege – Einklang“ von Daniel Seiple in Zusammenarbeit mit Yotam Haber und „Gemeinsame Wege“ von realities:united. Eine Realisierungsempfehlung wurde jedoch nicht ausgesprochen.
Dem Preisgericht gehörten an: die Künstler*innen Francesco Apuzzo (raumlaborberlin / Vorsitz des Preisgerichts), Arnold Dreyblatt, Manaf Halbouni, Maya Schweizer sowie Sabine Weißler (Bezirksstadträtin im Mitte von Berlin), Dr. Elke Gryglewski (Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz), Dr. Andrea Riedle (Direktorin Stiftung Topografie des Terrors).
Begleitend brachte das Bezirksamt Mitte von Berlin / Fachbereich Kunst, Kultur und Geschichte die Publikation „Systematik der Deportationen. Orte und Erinnerungen“ zum Thema heraus.(8) Die Initiative „Ihr letzter Weg“ und der Verein „Sie waren Nachbarn“ veröffentlichten außerdem einen Audio-Walk, der kostenlos zum Download bereitsteht.
Erinnerungsarbeit und Entwicklungsperspektiven für den Gedenkort Güterbahnhof Moabit
Seit 2022 befasst sich erneut ein Runder Tisch unter der Leitung der Stiftung Topografie des Terrors mit der Weiterentwicklung des Gedenkorts Güterbahnhof Moabit. Der Runde Tisch hat eine Beratungsfunktion. Die Mitglieder*innen beraten Politik und Verwaltung bei Fragen des weiteren Umgangs mit den historischen Spuren vor Ort. Wie können sie gesichert und wie weiter zugänglich gemacht werden? Neben diesen Fragen diskutiert der Runde Tisch über die Weiterentwicklung der Gestaltung des Gedenkorts, über neue Vermittlungsformate wie eine Ausstellung am historischen Ort sowie über eine verbesserte Integration des Gedenkorts in die Berliner Erinnerungskultur.
Dem Runden Tisch gehören an: Vertreter*innen der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa, des Landesdenkmalamtes Berlin, des Bezirksamts Mitte von Berlin (Amt für Weiterbildung und Kultur, Stadtplanungsamt, Untere Denkmalbehörde), der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, der Stiftung Exilmuseum, des Moses-Mendelsohn-Zentrums; Lidl Deutschland (Abteilung Immobilienmanagement), Deutsche Bahn (Abteilung Konzerngeschichte), die Vereine Sie waren Nachbarn e.V. und Gleis 69 e. V., das Kollektiv raumlabor berlin sowie die Historiker Prof. Dr. Michael Wildt, Andreas Szagun und Thomas Irmer.
- (1) GEW Berlin (Hrsg.) /Arbeitsgruppe Friedenspädagogik der GEW Tiergarten: Im Schatten der goldenen Flügel, Berlin 1984, S. 101. Dieses Mahnmal wurde im Oktober 1987 eingeweiht, die Arbeitsgruppe hatte eine Gedenktafel vorgeschlagen.
(2) Szagun, Andreas: Deportationsgleise auf dem Güterbahnhof Moabit, Gutachten im Auftrag von: Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Kunst im Stadtraum, Berlin, März 2016, S. 10 f.
(3) Diese sind in zeitlicher Reihenfolge:
Spielmann, Jochen: Gutachten über die historische Bedeutung und stadträumliche Einbindung der ehemaligen Deportationsrampe am Güterbahnhof Moabit, Berlin, März 2000, bisher unveröffentlicht,
Szagun, Andreas: Zwischenbericht zum Stand der Untersuchungen über die Deportationsgleise auf dem Güterbahnhof Moabit, 2002, unveröffentlichtes Manuskript zum Forschungsstand auf Bitten des Bezirksamtes Mitte von Berlin, inhaltlich im erweiterten Gutachten von 2016 aufgegangen,
Schulle, Diana; Dettmer, Dr. Klaus; Gottwaldt, Alfred: Forschungsgutachten zur Geschichte des Güterbahnhofs Berlin-Moabit unter schwerpunktmäßiger Berücksichtigung der Geschichte der Deportation der Berliner Juden von den Gleisen 69, 81 und 82, Berlin 2006. Die beiden letztgenannten finden Sie hier zum Download.(4) Schulle et al., 2006.
(5) Bezirksverordnetenversammlung Mitte von Berlin: Drucksache 1591/III vom 9.03.2010; Drucksache 1090/IV vom 15.10.2013.
(6) Auszug aus dem Protokoll der Preisgerichtsitzung.
(7) https://thgberlin.de/category/ag-erinnern/, abgerufen am 21.12.2023.
(8) Bezirksamt Mitte von Berlin (Hrsg.): Systematik der Deportationen. Orte und Erinnerungen, Berlin 2020.